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Abdankung Heinrich Mann (1871–1950)



 

Alle wollten Fußball spielen; Felix allein bestand auf einem Wettlauf.

»Wer ist hier der Herr?« schrie er, gerötet und bebend, mit einem Blick, daß der, den er traf, sich in einen Knäuel von Freunden verkroch.

»Wer ist hier der Herr!« – es war das erste Wort, das er, kaum in die Schule eingetreten, zu ihnen sprach. Sie sahen verdutzt einander an. Ein großer Rüpel musterte den schmächtigen Jungen und wollte lachen. Felix saß ihm plötzlich mit der Faust im Nacken und duckte ihn.

»Weiter kannst du wohl nichts?« ächzte der Gebändigte, das Gesicht am Boden.

»Laufe mit mir! Das soll entscheiden.«

»Ja, lauf!« riefen mehrere.

»Wer ist noch gegen das Laufen?« fragte Felix, aufgereckt und ein Bein vorgestellt.

»Mir ist es wurscht«, sagte faul der dicke Hans Butt.

Andere bestätigten: »Mir auch.«

Ein Geschiebe entstand, und einige traten auf Felix’ Seite. Denen, die sich hinter seinen Gegner gereiht hatten, ward bange, so rachsüchtig maß er sie.

»Ich merke mir jeden!« rief er schrill.

Zwei gingen zu ihm über, dann noch zwei. Butt, der sich parteilos herumdrückte, ward von Felix vermittelst einer Ohrfeige den Seinen zugesellt.

Felix siegte mit Leichtigkeit. Der Wind, der ihm beim Dahinfliegen entgegenströmte, schien eine begeisternde Melodie zu enthalten; und wie Felix, den Rausch der Schnelligkeit im pochenden Blut, zurückkehrte, war er jedes künftigen Sieges gewiß. Dem Unterlegenen, der ihm Vergeltung beim Fußball verhieß, lächelte er achselzuckend in die Augen.

Als er aber das nächste Mal einen, der sich seinem Befehl widersetzte, niederwarf, war’s nur Glück, und er wußte es. Schon war er verloren, da machte sich’s, daß er loskam und dem anderen einen Tritt in den Bauch geben konnte, so daß er stürzte. Da lag der nun, wie selbstverständlich – und doch fühlte Felix, der auf ihn herabsah, noch den Schwindel der schwankenden Minute, als Ruf und Gewalt auf der Schneide standen. Dann ein tiefer Atemzug und ein inneres Aufjauchzen; aber schon murrte jemand: Bauchtritte gälten nicht. Jawohl, echote es, sie seien feige. Und von neuem mußte man der Menge entgegentreten und sich behaupten.

Bei den meisten zwar genügten feste Worte. Die zwei oder drei kannte Felix, mit denen er sich noch zu messen hatte; die anderen gehorchten schon. Zuweilen überkam ihn – nie in der Schule, denn hier war er immer gespannt von der Aufgabe des Herrschens –, aber daheim: ihn überkam Staunen, weil sie gehorchten. Sie waren doch stärker! Jeder einzelne war stärker! Wenn dem dicken Hans Butt eingefallen wäre, daß er Muskeln hatte! Aber das war auch so ein weicher Klumpen, aus dem sich alles machen ließ. Felix war allein; sein Geist prüfte, in unruhigen Sprüngen, alle die Entfernten; und seine erregten Hände kneteten an seinen Gesichten und stießen sie fort.

Dabei fand er für den und jenen geringschätzige Namen. Fast allen schon hatte er sie aufgenötigt, und als der neue Klassenlehrer fragte, wie sie hießen, hatte jeder den seinen angeben müssen: Klops, Lump, Pithekos. Ja: da stand der englisch gekleidete Weeke als Pithekos, und Graupel, dessen Vater der Bürgermeister war, schimpfte sich Lump: weil Felix es ihnen befohlen hatte. Felix aber trug einen gewendeten Anzug; und seit auf der letzten ihrer abenteuerlichen Fahrten sein Vater – er konnte nur ahnen, wie – ums Leben gekommen war, beherbergten seine Mutter und ihn drei dürftige Zimmer in dieser Stadt – wo nun geschah, was er wollte.

Denn wie er den Kameraden die Spitznamen auferlegte, machte er die der Lehrer unmöglich. Niemand konnte sie mehr ohne Scham aussprechen. Dem Schreiblehrer, an dem solange der Feigste sein Mütchen gekühlt hatte, erzwang er eine achtungsvolle Behandlung. Durch Einschüchterung und Spott brachte er es in Mode, sich auf die Mathematikstunden nicht vorzubereiten. Als aber der Professor, dem jemand geklatscht haben mußte, die Klasse warnte, sich von einem Unbegabten zur Trägheit verführen zu lassen, erkämpfte Felix in acht Tagen die beste Note und erklärte es für Kinderspiel. In Wirklichkeit hatte er seinem Kopf Gewalt angetan und wußte nicht wohin vor Gereiztheit. Dem Professor, der ihn durch Auszeichnungen zu gewinnen suchte, begegnete er beflissen und unnahbar. Bis zur nächsten Stunde, setzte er durch, daß das eiserne Lineal erhitzt werden sollte. Das geschah hinter der Turnhalle. Wie Felix die Zweifler überzeugen wollte, daß der Professor immer im Eifer der Demonstration plötzlich mit ganzer Hand nach dem Lineal fasse, tat unbedacht er selbst den Griff und schrak zurück. Es ward gelacht. »Wer anderen eine Grube gräbt«, hieß es, und: »Er kann es selbst nicht aushalten.«

Felix’ Augen, die die Runde machten, wurden dunkel. Als das heiße Eisen zwischen Hölzern hineingetragen ward, ging er stumm hinterher. Alle saßen auf den Plätzen, der Schritt des Professors war zu hören; da nahm Felix das Lineal vom Pult und stieß es in sein aufgerissenes Hemd. Wie Rauschen ging’s durch die Klasse. Was sie hätten, warum niemand aufmerke, fragte der Professor. Felix meldete sich und gab, mit weißen Lippen, die Antwort. Dann saß er wieder da und hatte, hinter seinem gekrampften, einsamen Lächeln, das eine, manchmal von den Schmerzen übertobte Bewußtsein, daß sie alle, die er nicht ansah, voll Grauen, in Unterworfenheit und mit Wallungen der Liebe durch die Finger zu ihm herschielten, und daß er hoch über ihnen schwelge und sie maßlos verachte.

»Feuer ist nichts für euch«, sagte er, als er nach drei Tagen wiederkam; »aber Wasser!«

Er öffnete den Brunnen.

»Butt! Unter die Pumpe!«

Butt gab faul seinen Kopf her.

»Weeke! Graupel!«

Sie kamen. Einer nach dem ändern duckte sich unter den Strahl: albern lachend und knechtisch; weil auch der vorige es getan hatte; weil es ein Witz sein konnte; weil Felix zu widerstehen gegen Klugheit und Sitte ging.

Wie es von allen Schöpfen auf die Dielen tropfte und der erbitterte Ordinarius vergeblich nach dem Anstifter umherfragte, stand Felix auf.

»Ich habe sie alle getauft«, erklärte er gelassen und nahm sechs Stunden Karzer entgegen.

Er stand auch auf, weil einer »Kikeriki« gerufen hatte und niemand sich meldete. Nicht er war’s gewesen. Das nächste Mal zog er sich einen Tadel im Klassenbuch zu dadurch, daß er seine Grammatik dem Hintermann zum Ablesen hinhielt. Wenn er sie tyrannisierte, fühlte er sich auch verantwortlich für ihre Sünden und für ihr Wohlergehen. Er konnte sie nur als Sklaven ertragen; aber wo nicht er selbst befahl, hielt er eifersüchtig auf ihre Würde. Ein kürzlich eingetroffener Landjunker überhob sich: Felix kam darüber zu, wie er in der Mitte eines neugierigen Kreises stand, seinen ausgestreckten Arm für den Radius erklärte und ihn plötzlich rundum über die Gesichter fegte.

»Von welchem Hundekerl laßt ihr euch da ohrfeigen?« schrie Felix glühend.

»Nimm dich in acht, guter Freund«, sagte der junge Graf, mit einem Blick von oben nach unten. Felix stieß, außer sich, die Arme in die Luft.

»Sprich so mit deinem Kuhjungen, nicht mit mir, nicht mit – «

Die Sprache versagte ihm.

»Du möchtest wohl Prügel?« fragte sein Feind. Der Kreis öffnete sich und wich zurück.

»Und du?« ... ... ... – vorspringend. Plötzlich bezwang er sich, schob die Hände in die Taschen.

»Prügel von mir sind zu gut für dich; aber ich lasse dich prügeln!« Zu den ändern:

»Verhaut ihn! ... Nun? Er hat euch beleidigt. Macht euch das nichts? Er hat auch mich beleidigt. Ihr kennt mich. Nun?!« Von seinen Worten, seinen Blicken kamen sie ruckweise in Bewegung. Sie lugten einer nach dem ändern aus, suchten mit den Ellenbogen Fühlung: da, alle aufeinmal, warfen sie sich auf den Angreifer ihres Herrn. Er fiel um; ihr Erfolg machte sie wild. Felix lehnte an der Mauer und sah zu.

»Genug! Er blutet!«

»Jetzt vertragt euch wieder!«

Und der verblüffte Neuling ward in die Schar aufgenommen, lernte gehorchen mit der Schar.

Felix übte sie. Der, dem er zurief: »Er lebe wohl!« hatte in wahnsinniger Hast zu verschwinden; und auf die Frage: »Wie geht’s Ihm?«, war es Gesetz, zu erwidern: »Mäßig«; worauf Felix, mit gekrümmter Lippe: »Es scheint so.« Irgendeiner mußte nach Dunkelwerden zur Stadt hinaus; mußte den Weg schweigend zurücklegen und an einem bestimmten Hause sein Bedürfnis verrichten. Es war nicht sicher, daß Felix von Verstößen gegen seine Gebote nicht auf mystischen Wegen Kenntnis erlangt haben würde; und je derber sie der Vernunft zuwiderliefen, desto fanatischer wurden sie ausgeführt. Der junge Graf brachte es dahin, daß er Punkt vier Uhr, allein in seinem Zimmer, einen Stock schwenkte und dreißigmal Hurra schrie. Und nach jedem Hurra riefein anderer, der vor dem Hause stand, hinauf: »Du Schaf!« Tägliche Pflicht des dicken Hans Butt war es, sich während der längsten Pause in die leere Klasse zu schleichen, sich auf den Boden zu legen und mit geschlossenen Augen zu harren, daß Felix ihn »entsündige«. Felix kam die Treppe herauf, zwischen vier Trabanten, die an der Tür stehen blieben und das, was vorging, nicht mit Augen schauen durften. Er umkreiste dreimal den ausgestreckten Butt; kein Atem ging in dem weiten Zimmer; und ließ sich rittlings auf den Bauch des Patienten fallen. Butt konnte aufstehen.

Wenn er Butts Fett unter sich zittern und weichen fühlte, war Felix versucht, sich darauf auszuruhen. Er hatte die Empfindung, daß Butts Sünden wirklich in sein eigenes Fleisch hinüberflössen; die tierische Apathie des ändern versuchte ihn; eine Gemeinschaft entstand, die ihn selbst anwiderte.

Butt stammte aus einer Gärtnerei und war durchtränkt mit dem friedlichen Geruch erdiger Gemüse, nach dem es Felix immer wieder verlangte wie nach einem Gift, das verachtete Wonnen verspricht. Butts Schnaufen lockte ihn an; und Felix brauchte auf seinem brennenden Lauf nach einem Ziel, einer Tat nur in Butts Nähe zu kommen: Butt hing, hingewälzt, an der sonnigen Mauer: dann mußte Felix anhalten; Butts Dunst fing ihn ein. Er schob – und bekam nie genug davon – diesen willenlosen Kopf hin und her, der hängen blieb, wie man ihn hängte; hob diese trägen Gliedmaßen und ließ sie fallen; versenkte sich, mit einem erschlaffenden Grauen, in Butt wie in einen lauen Abgrund. Ein wütender Fußtritt bezeichnete den Augenblick, wo er wieder heraufkam.

Sein Schlaf ward unruhig; er erwachte manchmal mit Tränen bitterer Begierde und erinnerte sich schambestürzt, daß er im Traum Butts Körper betastet habe. Und er sann sich, mit Verachtung und Neid, in solch ein Wesen hinein, dessen Schwere nichts aufrüttelte, kein Ehrgeiz, kein Verantwortlichkeitssinn, weder die Not der selbstgeschaffenen Pflichten, noch die jener Seltsamkeiten, die sich nicht gestehen ließen. Wenn die Unterworfenen einen Blick hätten tun können in das, was ihr Beherrscher verbarg! Daß er ihre Antwort auf den rituellen Zuruf: »Wie geht’s Ihm?« mit immer neuer Qual erwartete. Daß er das Ausbleiben dieses entsetzlichen »Mäßig« selbst während der Unterrichtsstunde nie ertragen haben würde und dem Zwang erlegen wäre, zur Erlangung seines Tributs dem Lehrer laut ins Wort zu fallen. Daß er die Schritte eines, den er zu sich beschied, zählen und abergläubische Schlüsse aus ihrer Summe ziehen mußte. Daß er – es ging nicht anders – jemanden, den er durch ein »Er lebe wohl!« zum jähen Verschwinden bestimmt hatte, in Angst und Eile von beiden Seiten, von vorn und nochmals von links ansah, als gälte es, ihn für immer auswendig zu lernen, und daß, hatte er dies nicht fertiggebracht. Stunden voll Pein kamen.

Wie leicht sie’s eigentlich hatten, die, die sich ihm ergaben, ihn statt ihrer wollen ließen und nun ruhig schliefen. Ob man sich solch ein gemeines, stumpfsinniges Dasein wünschen sollte? Ach, manchmal wäre es eine Wohltat gewesen, jemand zu haben, der einem Befehle gäbe, einem alles abnähme. Felix stand in der Nacht auf, stellte sich mit der Kerze vor den Spiegel und ließ sich von seinem Gegenüber zurufen: »Streck die Zunge raus! Leg zwei Finger an die Stirn!«

»Nein, was für ein Unsinn! Das bin ichja wieder selbst.«

Mit einem Blick des Überdrusses wandte er seinem Abbild den Rücken.

Dann rächte er sich an denen, die es so viel leichter hatten, machte die Probe, wie weit sich’s wohl treiben ließ mit ihnen.

»Runge, spuck dem Butt ins Gesicht! . . . Jetzt spuckt Butt den Weeke! Und Weeke den Graupel. Und so weiter.«

Sie taten es! Es war fabelhaft. »Wer den ändern auf die Nase trifft, wird mein Trabant!«

Er dachte: »Merken sie denn gar nicht, was sie tun? Sie jubeln! Warum zwingen sie mich, sie so furchtbar zu verachten? Da stehe ich ganz allein. Mich spuckt keiner, darauf verfallen sie nicht. Ich hätte wirklich Lust; o, ich darf nicht; aber ich hätte Lust...« Er holte, erregten Gesichtes, Butt aus dem Gedränge und sagte ihm etwas ins Ohr. Butt sah ihn tief erschrocken an. »Wird’s bald?« flüsterte Felix; und da Butt unschlüssig blieb, erhob er die Hand.

»Entweder oder!«

Da tappte Butt einen Schritt rückwärts, und vor aller Augen spie er Felix mitten auf die Stirn.

Entsetzte Stille brach ein. Felix lachte leichtsinnig.

»Jetzt kommt was Neues. Ich tue alles, was Butt sagt.«

Die Menge blickte auf Butt und jauchzte befreit.

»Nun, Butt? Sag mal was! Was soll ich tun? Weißt du nichts? Soll ich rechtsum machen?«

Butt blieb ratlos, und die Menge krümmte sich.

»Soll ich auf einem Bein hüpfen? Hast du denn gar keine Phantasie? Befehl mir doch dasselbe, was ich dir befohlen habe!«

Butt wagte mißtrauisch:

»Heb den Arm auf. Laß ihn wieder fallen!«

Felix tat es; und Butt wußte nicht weiter.

Aber in jeder Schulpause kam Felix auf das neue Spiel zurück. Er legte Butt nahe, was er ihm aufgeben solle.

»Du kannst alles von mir verlangen, was ich sonst von dir verlangt habe; hörst du: alles ... Was mußtest du um diese Zeit immer tun?«

»Ich mußte mich entsündigen lassen«, sagte Butt und wollte schon hin.

»Nein, ich!«

Und Felix ging hinauf und streckte sich auf den Boden. Mit geschlossenen Augen: »Weiter, Butt!«

Einige stießen Butt vor; andere zerrten ihn wieder zurück.

»Weiter, Butt!«

Butt schwankte ins Zimmer hinein. Er machte die Runde um Felix: einmal, zweimal und das drittemal.

»Was kommt jetzt, Butt?«

Alles hielt den Atem an. Den Finger am Mundwinkel, stand Butt und glotzte auf Felix hinab.

»Nein, das geht nicht«; und er machte kehrt.

»Butt, du tust es!«

»Nein, das darf er nicht!« rief die Menge mit Entrüstung; – und so oft Felix hiervon wieder anfing, hinderte ihn derselbe dumpfe Widerstand. Er erfand ein anderes Mittel, Butt zu seinem Herrn zu machen.

»Butt, wo geht der Weg? Geradeaus oder um den Baum herum?«

Butt antwortete in zweifelndem Tom, Felix tat, was er vorschrieb, und alle lachten Beifall. Es war die Zeit der Schulausflüge.

»Butt, wo geht der Weg? Über die Brücke oder durch den Bach?«

Und Butt, Mut fassend:

»Durch den Bach!«

Felix sprang hinein, ohne nur die Füße zu entkleiden.

Wenn es zur Stunde läutete, fragte er noch rasch:

»Butt, wo geht der Weg?«

»Die Treppe hinauf«; und Butt grunzte.

»Wenn er gesagt hätte: nach Hause«, dachte Felix, »ich hätte es tun müssen; ich hätte es unbedingt tun müssen.« Ein Versuch lockte ihn angstvoll.

»Der Weg kann auch mal unter den Tischen durchgehn«, erklärte er; und während der nächsten Stunde fragte er:

»Butt, wo geht der Weg?«

»Unter den Tischen durch«, sagte Butt und machte vor Schreck die Augen zu. Als er sie öffnete, war Felix fort.

»Was hat denn der dort unten zu suchen!« rief der Professor.

Blutrot, mit wirrem Blick kam Felix unter der letzten Bank hervor. O, die grausame Selbstvergewaltigung, die todverachtende Hingabe, mit der er sich hinabgestürzt hatte! Herrlicher fühlte dies sich an, als wenn sie auf seinen Befehl einander verprügelt hatten.

Er begegnete, voll eines entsetzlich süßen Stolzes, in den Augen, die ihn untersuchten, der beginnenden Schadenfreude.

Bis dahin hatte Felix keinen Freund gehabt, hatte außerhalb der Schule mit niemand verkehrt. Jetzt trennte er sich nicht mehr von Butt, brachte ihm die fertigen Arbeiten, blieb bei ihm sitzen und sah ihn inständig an.

»Butt, wo geht der Weg?«

»In die Ecke . . . Die Treppe siebenmal rauf und runter . . . Ins Hundehaus.« Damit war Butt erschöpft. Unvermutet aber fand er etwas Praktisches.

»Zum Bäcker, Apfelkuchen holen.«

Dies wiederholte er, solange Felix’ Mutter noch Geld gab.

»Butt, wo geht der Weg?«

»Zum Kuckuck.«

Und Felix lief vors Tor hinaus, strich mit Herzklopfen durch die Büsche, horchte, errötend und erblassend, in den Wald hinein und atmete, wie der Kuckuck rief, leidenschaftlich auf, als sei ihm das Leben geschenkt.

In der Schule prahlte Butt mit seiner Macht über den, dem alle gehorchen. Aber er bekam von ihnen Püffe dafür. Felix versuchte zu lachen, schämte sich gleich darauf seiner Verstellung und erklärte:

»Butt ist mein Freund: was geht es euch an?«

Er ward mißbilligend und scheu betrachtet; in den Winkeln tuschelte es über ihn; freche Blicke wagten sich hervor; ein kleiner Naiver trat an ihn hinan.

»Ist Butt eigentlich mehr als du?« fragte er hell.

Felix senkte, rot überflogen, die Stirn. Niemand sprach.

Alles Glück, auf das Felix sann, sollten die Sommerferien bringen, wenn er mit Butt allein wäre. Er erreichte es, daß seine Mutter auch dem Gärtnerssohn den Aufenthalt am Ukleisee bezahlte. Das Bauernhaus stand halb im Wasser. Aus ihrem Fenster fischten sie. Durch das von waldigen Ufern schwarz beschattete Wasser schwankte ihr plumper Kahn. Felix schoß Stücke ins Wasser: das waren Torpedos; und verkündete Butt, seinem Kapitän, den Sieg. Butt ließ sich zu stolzen Kommandorufen hinreißen; aber als Felix ihm einen der Stöcke, den er aus dem Wasser zog, wegnahm und dabei behauptete, das sei ein Hai, er habe seinen Kapitän gerettet und dem Hai eine Stange durch den Rachen und den ganzen Leib getrieben, da kam Butt nicht mehr mit, erklärte alles für Unsinn und streckte sich ins Boot.

»Butt, wo geht der Weg?«

»Ins Wasser, das Boot schieben.«

Felix schwamm und schob. Er ermüdete.

»Butt, wo geht der Weg?«

Butt lag mit den Händen unter dem Kopf, blinzelte, schnaufte und genoß. Halbschlafend gedachte er der Zeit, als er für Felix umhergesprungen war, vor ihm gezittert hatte, sich von ihm hatte entsündigen lassen.

»Weiter«, brummte er. Eine Weile darauf mußte Felix gestehen: »Ich kann nicht mehr. Wo geht der Weg?«

Butt wußte etwas Neues.

»Zu den –« Aber er unterbrach sich, gutmütig grunzend.

»Ins Boot zurück.«

»Was wolltest du sagen, Butt?«

Felix war außerstande, sich darüber zu beruhigen. Butt erlustigte sich an seiner Erregung. In der Nacht ward er wachgerüttelt. Felix stand im Hemd vor seinem Bett.

»Butt, wo geht der Weg?«

»Donnerwetter, jetzt hört’s auf. Zu den Fischen hinunter geht er!«

Im nächsten Augenblick, mit Geschrei:

»Nein! Nicht zu den Fischen! Ins Bett!«

Felix stieg zögernd von der Fensterbank herab.

»Du hast es doch gesagt.«

»Es war nicht wahr. Laß mich in Ruhe.«

»Du hast es aber doch gesagt.«

Am Morgen, als erstes Wort nach fiebrigem Schlaf, und unermüdlich Tag für Tag:

»Geht der Weg wirklich nicht zu den Fischen hinunter?«

»Na also: ja«, machte Butt manchmal; aber dann rief er Felix zurück.

Die Schule fing wieder an. Felix betrat sie mit blassen, gehöhlten Wangen und starrem Blick. Er hatte keinen Sinn für die Vorgänge bei den anderen, für das, was Butt ihnen erzählte, für ihr Gelächter, wenn er sich zeigte. Von Zeit zu Zeit kam einer auf ihn zu, versetzte ihm wortlos einen langsamen Stoß mit der Schulter; und nach dieser Absage an den einstigen Herrn ging er mit saurer, strenger Miene weiter. Die Lider gesenkt, schlich Felix nur immer Butt nach, flüsterte etwas; Butt stieß mit der Schulter, wie die anderen: »Wer weiß«; und Felix stammelte qualvoll:

»Du hast es aber gesagt.«

Eines Morgens war er nicht da. Am zweiten Tag erst fand Butt unter seinen Heften den Zettel, auf den Felix geschrieben hatte:

»Der Weg ging doch zu den Fischen hinunter.«