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Doktor Murkes gesammeltes Schweigen Heinrich Böll

aus: Heinrich Böll: Gesammelte Erzählungen 2, Kiepenheuer & Witsch, 1981

Jeden Morgen, wenn er das Funkhaus betreten hatte, unterzog sich Murke einer existentiellen Turnübung: er sprang in den Paternosteraufzug, stieg aber nicht im zweiten Stockwerk, wo sein Büro lag, aus, sondern ließ sich höher tragen, am dritten, am vierten, am fünften Stockwerk vorbei, und jedesmal befiel ihn Angst, wenn die Plattform der Aufzugskabine sich über den Flur des fünften Stockwerks hinweg erhob, die Kabine sich knirschend in den Leerraum hinweg erhob, wo geölte Ketten, mit Fett beschmierte Stangen, ächzendes Eisenwerk die Kabine aus der Aufwärts- in die Abwärtsrichtung schoben, und Murke starrte voller Angst auf diese einzige unverputzte Stelle des Funkhauses, atmete auf, wenn die Kabine sich zurechtgerückt, die Schleuse passiert und sich wieder eingereiht hatte und langsam nach unten sank, am fünften, am vierten, am dritten Stockwerk vorbei; Murke wußte, daß seine Angst unbegründet war: selbstverständlich würde nie etwas passieren, es konnte gar nichts passieren, und wenn etwas passierte, würde er im schlimmsten Falle gerade oben sein, wenn der Aufzug zum Stillstand kam, und würde eine Stunde, höchstens zwei dort oben eingesperrt sein. Er hatte immer ein Buch in der Tasche, immer Zigaretten mit; doch seit das Funkhaus stand, seit drei Jahren, hatte der Aufzug noch nicht einmal versagt. Es kamen Tage, an denen er nachgesehen wurde, Tage, an denen Murke auf diese viereinhalb Sekunden Angst verzichten mußte, und er war an diesen Tagen gereizt und unzufrieden, wie Leute, die kein Frühstück gehabt haben. Er brauchte diese Angst, wie andere ihren Kaffee, ihren Haferbrei oder ihren Fruchtsaft brauchen. Wenn er dann im zweiten Stock, wo die Abteilung Kulturwort untergebracht war, vom Aufzug absprang, war er heiter und gelassen, wie eben jemand heiter und gelassen ist, der seine Arbeit liebt und versteht. Er schloß die Tür zu seinem Büro auf, ging langsam zu seinem Sessel, setzte sich und steckte eine Zigarette an: er war immer der erste im Dienst. Er war jung, intelligent und liebenswürdig, und selbst seine Arroganz, die manchmal kurz aufblitzte, selbst diese verzieh man ihm, weil man wußte, daß er Psychologie studiert und mit Auszeichnung promoviert hatte.

Nun hatte Murke seit zwei Tagen aus einem besonderen Grund auf sein Angstfrühstück verzichtet: er hatte schon um acht ins Funkhaus kommen, gleich in ein Studio rennen und mit der Arbeit beginnen müssen, weil er vom Intendanten den Auftrag erhalten hatte, die beiden Vorträge über das Wesen der Kunst, die der große Bur-Malottke auf Band gesprochen hatte, den Anweisungen Bur-Malottkes gemäß zu schneiden. Bur-Malottke, der in der religiösen Begeisterung des Jahres 1945 konvertiert hatte, hatte plötzlich „über Nacht“, so sagte er, „religiöse Bedenken bekommen“, hatte sich „plötzlich angeklagt gefühlt, an der religiösen Überlagerung des Rundfunks mitschuldig zu sein“, und war zu dem Entschluß gekommen, Gott, den er in seinen beiden halbstündigen Vorträgen über das Wesen der Kunst oft zitiert hatte, zu streichen und durch eine Formulierung zu ersetzen, die mehr der Mentalitat entsprach, zu der er sich vor 1945 bekannt hatte; Bur-Malottke hatte dem Intendanten vorgeschlagen, das Wort Gott durch die Formulierung „jenes höhere Wesen, das wir verehren“ zu ersetzen, hatte sich aber geweigert, die Vorträge neu zu sprechen, sondern darum gebeten, Gott aus den Vorträgen herauszuschneiden und „jenes höhere Wesen, das wir verehren“ hineinzukleben. Bur-Malottke war mit dem Intendanten befreundet, aber nicht diese Freundschaft war die Ursache für des Intendanten Entgegenkommen: Bur-Malottke widersprach man einfach nicht. Er hatte zahlreiche Bücher essayistischen Inhalts geschrieben, er saß in der Redaktion von drei Zeitschriften und zwei Zeitungen, er war Cheflektor des größten Verlages. Er hatte sich bereit erklärt, am Mittwoch für eine Viertelstunde ins Funkhaus zu kommen und „jenes höhere Wesen, das wir verehren“ so oft auf Band zu sprechen, wie Gott in seinen Vorträgen vorkam. Das übrige überließ er der technischen Intelligenz der Funkleute. Es war für den Intendanten schwierig gewesen, jemanden zu finden, dem er diese Arbeit zumuten konnte; es fiel ihm zwar Murke ein, aber die Plötzlichkeit, mit der ihm Murke einfiel, machte ihn mißtrauisch – Murke war ein vitaler und gesunder Mann –, und so überlegte er fünf Minuten, dachte an Schwendling, an Humkoke, an Fräulein Broldin, kam aber doch wieder auf Murke.

Der Intendant mochte Murke nicht; er hatte ihn zwar sofort engagiert, als man es ihm vorschlug, er hatte ihn engagiert, so wie ein Zoodirektor, dessen Liebe eigentlich den Kaninchen und Rehen gehört, natürlich auch Raubtiere anschafft, weil in einen Zoo eben Raubtiere gehören – aber die Liebe des Intendanten gehörte eben doch den Kaninchen und Rehen, und Murke war für ihn eine intellektuelle Bestie. Schließlich siegte seine Vitalität, und er beauftragte Murke, Bur-Malottkes Vortrag zu schneiden. Die beiden Vorträge waren am Donnerstag und Freitag im Programm, und Bur-Malottkes Gewissensbedenken waren in der Nacht von Sonntag auf Montag gekommen – und man hätte ebensogut Selbstmord begehen können wie Bur-Malottke zu widersprechen, und der Intendant war viel zu vital, um an Selbstmord zu denken. So hatte Murke am Montagnachmittag und am Dienstagmorgen dreimal die beiden halbstündigen Vorträge über das Wesen der Kunst abgehört, hatte Gott hinausgeschnitten und in den kleinen Pausen, die er einlegte, während er stumm mit dem Techniker eine Zigarette rauchte, über die Vitalitat des Intendanten und über das niedrige Wesen, das Bur-Malottke verehrte, nachgedacht. Er hatte nie eine Zeile von Bur-Malottke gelesen, nie zuvor einen Vortrag von ihm gehört. Er hatte in der Nacht von Montag auf Dienstag von einer Treppe geträumt, die so hoch und so steil war wie der Eiffelturm, und er war hinaufgestiegen, hatte aber bald gemerkt, daß die Treppenstufen mit Seife eingeschmiert waren, und unten stand der Intendant und rief: „Los, Murke, los ... zeigen Sie, was Sie können ... los!“ In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch war der Traum ähnlich gewesen: er war ahnungslos auf einem Rummelplatz zu einer Rutschbahn gegangen, hatte dreißig Pfennig an einen Mann bezahlt, der ihm bekannt vorkam, und als der die Rutschbahn betrat, hatte er plötzlich gesehen, daß sie mindestens zehn Kilometer lang war, hatte gewußt, daß es keinen Weg zurück gab, und ihm war eingefallen, daß der Mann, dem er die dreißig Pfennig gegeben hatte, der Intendant war. An den beiden Morgen nach diesen Träumen hatte er das harmlose Angstfrühstück oben im Leerraum des Paternosters nicht mehr gebraucht. Jetzt war Mittwoch, und er hatte in der Nacht nichts von Seife, nichts von Rutschbahnen, nichts vom Intendanten geträumt. Er betrat lächelnd das Funkhaus, stieg in den Paternoster, ließ sich bis in den sechsten Stock tragen – viereinhalb Sekunden Augst, das Knirschen der Ketten, die unverputzte Stelle, dann ließ er sich bis zum vierten Stock hinuntertragen, stieg aus und ging auf das Studio zu, wo er mit Bur-Malottke verabredet war. Es war zwei Minuten vor zehn, als er sich in den grünen Sessel setzte, dem Techniker zuwinkte und sich seine Zigarette anzündete. Er atmete ruhig, nahm einen Zettel aus der Brusttasche und blickte auf die Uhr: Bur-Malottke war pünktlich, jedenfalls ging die Sage von seiner Pünktlichkeit; und als der Sekundenzeiger die sechzigste Minute der zehnten Stunde füllte, der Minutenzeiger auf die Zwölf, der Stundenzeiger auf die Zehn rutschte, öffnete sich die Tür, und Bur-Malottke trat ein. Murke erhob sich, liebenswürdig lächelnd, ging auf Bur-Malottke zu und stellte sich vor. Bur-Malottke drückte ihm die Hand, lächelte und sagte: „Na, dann los!“ Murke nahm den Zettel vom Tisch, steckte die Zigarette in den Mund und sagte, vom Zettel ablesend, zu Bur-Malottke: „In den beiden Vorträgen kommt Gott genau siebenundzwanzigmal vor – ich müßte Sie also bitten, siebenundzwanzigmal das zu sprechen, was wir einkleben können. Wir wären Ihnen dankbar, wenn wir Sie bitten dürften, es fünfunddreißigmal zu sprechen, da wir eine gewisse Reserve beim Kleben werden gebrauchen können..“ „Genehmigt“, sagte Bur-Malottke lächelnd und setzte sich. „Eine Schwierigkeit allerdings“, sagte Murke, „ist folgende: bei dem Wort Gott, so ist es jedenfalls in Ihrem Vortrag, wird, abgesehen vom Genitiv, der kasuale Bezug nicht deutlich, bei ,jenem höheren Wesen, das wir verehren' muß er aber deutlich gemacht werden. Wir haben“ – er lächelte liebenswürdig zu Bur-Malottke hin – „insgesamt nötig: zehn Nominative und fünf Akkusative, fünfzehnmal also: ,jenes höhere Wesen, das wir verehren' – dann sieben Genitive, also: ,jenes höheren Wesens, das wir verehren' – fünf Dative: ,jenem höheren Wesen, das wir verehren'-es bleibt noch ein Vokativ, die Stelle, wo sie: ,O Gott' sagen. Ich erlaube mir, Ihnen vorzuschlagen, daß wir es beim Vokativ belassen und Sie sprechen ,O du höheres Wesen, das wir verehren.'“ Bur-Malottke hatte offensichtlich an diese Komplikationen nicht gedacht; er begann zu schwitzen, die Kasualverschiebung machte ihm Kummer. Murke fuhr fort: „Insgesamt“, sagte er liebenswürdig und freundlich, „werden wir für die siebenundwanzig neugesprochenen Sätze eine Sendeminute und zwanzig Sekunden benötigen, während das siebenundzwanzigmalige Sprechen von ,Gott' nur zwanzig Sekunden Sprechzeit erforderte. Wir müssen also zugunsten Ihrer Veränderung aus jedem Vortrag eine halbe Minute streichen.“ Bur-Malottke schwitzte heftiger; er verfluchte sich innerlich selbst seiner plötzlichen Bedenken wegen und fragte: „Geschnitten haben Sie schon, wie?“ „Ja“, sagte Murke, zog eine blecherne Zigarettenschachtel aus der Tasche, öffnete sie und hielt sie Bur-Malottke hin: es waren kurze, schwärzliche Tonbandschnippel in der Schachtel, und Murke sagte leise: „Siebenundzwanzigmal Gott, von Ihnen gesprochen. Wollen Sie sie haben? „ „Nein“, sagte Bur-Malottke wütend, „danke. Ich werde mit dem Intendanten wegen der beiden halben Minuten sprechen. Welche Sendungen folgen auf meine Vorträge?“ „Morgen“, sagte Murke, „folgt lhrem Vortrag die Routinesendung Internes aus KUV, eine Sendung, die Dr. Grehm redigiert.“ „Verflucht“, sagte Bur-Malottke, „Grehm wird nicht mit sich reden lassen.“ „Und übermorgen“, sagte Murke, „folgt Ihrem Vortrag die Sendung Wir schwingen das Tanzbein.“ „Huglieme,“ stöhnte Bur-Malottke, „noch nie hat die Abteilung Unterhaltung an die Kultur auch nur eine Fünftelminute abgetreten. „ „Nein,“ sagte Murke, „noch nie, jedenfalls“ – und er gab seinem jungen Gesicht den Ausdruck tadelloser Bescheidenheit – „jedenfalls noch nie, solange ich in diesem Hause arbeite.“ „Schön“, sagte Bur-Malottke und blickte auf die Uhr, „in zehn Minuten wird es wohl vorüber sein, ich werde dann mit dem Intendanten wegen der Minute sprechen. Fangen wir an. Können Sie mir Ihren Zettel hierlassen?“ „Aber gern.“ sagte Murke, „ich habe die Zahlen genau im Kopf. „ Der Techniker legte die Zeitung aus der Hand, als Murke in die kleine Glaskanzel kam. Der Techniker lächelte. Murke und der Techniker hatten während der sechs Stunden am Montag und Dienstag, als sie Bur-Malottkes Vorträge abgehört und daran herumgeschnitten hatten, nicht ein einziges privates Wort miteinander gesprochen; sie hatten sich nur hin und wieder angesehen, das eine Mal hatte der Techniker Murke, das andere Mal Murke dem Techniker die Zigarettenschachtel hingehalten, wenn sie eine Pause machten, und als Murke jetzt den Techniker lächeln sah, dachte er: Wenn es überhaupt Freundschaft auf dieser Welt gibt, dann ist dieser Mann mein Freund. Er legte die Blechschachtel mit den Schnippeln aus Bur-Malottkes Vortrag auf den Tisch und sagte leise: „Jetzt geht es los.“ Er schaltete sich ins Studio und sagte ins Mikrofon: „Das Probesprechen können wir uns sicher sparen, Herr Professor. Am besten fangen wir gleich an: ich darf Sie bitten, mit den Nominativen zu beginnen.“ Bur-Malottke nickte, Murke schaltete sich aus, drückte auf den Knopf, der drinnen im Studio das grüne Licht zum Leuchten brachte, dann hörten sie Bur-Malottkes feierliche, wohlakzentuierte Stimme sagen: „Jenes höhere Wesen, das wir verehren -jenes höhere Wesen...“ Bur-Malottkes Lippen wölbten sich der Schnauze des Mikrofons zu, als ob er es küssen wollte, Schweiß lief über sein Gesicht, und Murke beobachtete durch die Glaswand hindurch kaltblütig, wie Bur-Malottke sich quälte; dann schaltete er plötzlich Bur-Malottke aus, brachte das ablaufende Band, das Bur-Malottkes Worte aufnahm, zum Stillstand und weidete sich daran, Bur-Malottke stumm wie einen dicken, sehr schönen Fisch hinter der Glaswand zu sehen. Er schaltete sich ein, sagte ruhig ins Studio hinein: „Es tut mir leid, aber unser Band war defekt, und ich muß Sie bitten, noch einmal von vorne mit den Nominativen zu beginnen.“ Bur-Malottke fluchte, aber es waren stumme Flüche, die nur er selbst hörte, denn Murke hatte ihn ausgeschaltet, schaltete ihn erst wieder ein, als er angefangen hatte, „jenes höhere Wesen...“ zu sagen. Murke war zu jung, hatte sich zu gebildet gefühlt, um das Wort Haß zu mögen. Hier aber, hinter der Glaswand, während Bur-Malottke seine Genitive sprach, wußte er plötzlich, was Haß ist: er haßte diesen großen, dicken und schönen Menschen, dessen Bücher in zwei Millionen und dreihundertfünfzigtausend Kopien in Bibliotheken, Büchereien, Bücherschränken und Buchhandlungen herumlagen, und er dachte nicht eine Sekunde daran, diesen Haß zu unterdrücken. Murke schaltete sich, nachdem Bur-Malottke zwei Genitive gesprochen hatte, wieder ein, sagte ruhig: „Verzeihung, daß ich Sie unterbreche: die Nominative waren ausgezeichnet, auch der erste Genitiv, aber bitte, vom zweiten Genitiv ab noch einmal; ein wenig weicher, ein wenig gelassener, ich spiel es Ihnen mal rein.“ Und er gab, obwohl Bur-Malottke heftig den Kopf schüttelte, dem Techniker ein Zeichen, das Band ins Studio zu spielen. Sie sahen, daß Bur-Malottke zusammenzuckte, noch heftiger schwitzte, sich dann die Ohren zuhielt, bis das Band durchgelaufen war. Er sagte etwas, fluchte, aber Murke und der Techniker hörten ihn nicht, sie hatten ihn ausgeschaltet. Kalt wartete Murke, bis er von Bur-Malottkes Lippen ablesen konnte, daß er wieder mit dem höheren Wesen begonnen hatte, er schaltete Mikrofon und Band ein, und Bur-Malottke fing mit den Dativen an: „jenem höheren Wesen, das wir verehren“. Nachdem er die Dative gesprochen hatte, knüllte er Murkes Zettel zusammen, erhob sich, in Schweiß gebadet und zornig, wollte zur Tür gehen; aber Murkes sanfte, liebenswürdige junge Stimme rief ihn zurück. Murke sagte: „Herr Professor, Sie haben den Vokativ vergessen.“ Bur-Malottke warf ihm einen haßerfüllten Blick zu und sprach ins Mikrofon: „O du höheres Wesen, das wir verehren!“ Als er hinausgehen wollte, rief ihn abermals Murkes Stimme zurück. Murke sagte: „Verzeihen Sie, Herr Professor, aber in dieser Weise gesprochen, ist der Satz unbrauchbar.“ „Um Gottes willen.“ flüsterte ihm der Techniker zu, „übertreiben Sie's nicht.“ Bur-Malottke war mit dem Rücken zur Glaskanzel an der Tür stehengeblieben, als sei er durch Murkes Stimme festgeklebt. Er war, was er noch nie gewesen war: er war ratlos, und diese so junge, liebenswürdige, so maßlos intelligente Stimme peinigte ihn, wie ihn noch nie etwas gepeinigt hatte. Murke fuhr fort: „Ich kann es natürlich so in den Vortrag hineinkleben, aber ich erlaube mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, Herr Professor, daß es nicht gut wirken wird.“ Bur-Malottke drehte sich um, ging wieder zum Mikrofon zurück und sagte leise und feierlich: „O du höheres Wesen, das wir verehren.“ Ohne sich nach Murke umzusehen, verließ er das Studio. Es war genau viertel nach zehn, und er stieß in der Tür mit einer jungen, hübschen Frau zusammen, die Notenblätter in der Hand hielt. Die junge Frau war rothaarig und blühend, sie ging energisch zum Mikrofon, drehte es, rückte den Tisch zurecht, so daß sie frei vor dem Mikrofon stehen konnte. In der Glaskanzel unterhielt sieh Murke eine halbe Minute mit Huglieme, dem Redakteur der Unterhaltungsabteilung. Huglieme sagte, indem er auf die Zigarettenschachtel deutete: „Brauchen Sie das noch?“ Und Murke sagte: „Ja, das brauche ich noch.“ Drinnen sang die rothaarige junge Frau: „Nimm meine Lippen, sowie sie sind, und sie sind schön..“ Huglieme schaltete sich ein und sagte ruhig ins Mikrofon: „Halt doch bitte noch für zwanzig Sekunden die Fresse, ich bin noch nicht ganz soweit.“ Die junge Frau lachte, schürzte den Mund und sagte: „Du schwules Kamel.“ – Murke sagte zum Techniker: „Ich komme also um elf, dann schnippeln wir es auseinander und kleben es ,rein.“ „Müssen wir's nachher auch noch abhören?“ fragte der Techniker. „Nein,“ sagte Murke, „nicht um eine Million Mark höre ich es noch einmal ab.“ Der Techniker nickte, legte das Band für die rothaarige Sängerin ein, und Murke ging. Er steckte eine Zigarette in den Mund, ließ sie unangezündet und ging durch den rückwärtigen Flur auf den zweiten Paternoster zu, der an der Südseite lag und zur Kantine hinunterführte. Die Teppiche, die Flure, die Möbel und Bilder, alles reizte ihn. Es waren schöne Teppiche, schöne Flure, schöne Möbel und geschmackvolle Bilder, aber er hatte plötzlich den Wunsch, das kitschige Herz-Jesu-Bildchen, das seine Mutter ihm geschickt hatte, hier irgendwo an der Wand zu sehen. Er blieb stehen, blickte um sich, lauschte, zog das Bildchen aus der Tasche und klemmte es zwischen Tapete und Türfüllung an die Tür des Hilfsregisseurs der Hörspielabteilung. Das Bildchen war bunt, grell, und unter der Abbildung des Herzens Jesu war zu lesen: Ich betete für Dich in Sankt Jacobi. Murke ging weiter, stieg in den Paternoster und ließ sich nach unten tragen. Auf dieser Seite des Funkhauses waren die Schrörschnauzaschenbecher, die beim Preisausschreiben um die besten Aschenbecher den ersten Preis bekommen hatten, schon angebracht. Sie hingen neben den erleuchteten roten Zahlen, die das Stockwerk angaben: eine rote Vier, ein Schrörschnauzaschenbecher, eine rote Drei, ein Schrörschnauzaschenbecher, eine rote Zwei, ein Schrörschnauzaschenbecher. Es waren schöne, aus Kupfer getriebene, muschelförmige Aschenbecher, deren Stütze irgendein aus Kupfer getriebenes, originelles Meeresgewächs war: knotige Algen – und jeder Aschenbecher hatte zweihundertachtundfünfzig Mark und siebenundsiebzig Pfennig gekostet. Sie waren so schön, daß Murke noch nie den Mut gehabt hatte, sie mit seiner Zigarettenasche oder gar mit etwas Unästhetischem wie einer Kippe zu verunreinigen. Allen anderen Rauchern schien es ähnlich zu gehen – leere Zigarettenschachteln, Kippen und Asche lagen immer unter den schönen Aschenbechern auf dem Boden: niemand schien den Mut zu finden, diese Aschenbecher wirklich als solche zu benutzen; kupfern waren sie, blank und immer leer. Murke sah schon den fünften Aschenbecher neben der rot erleuchteten Null auf sich zukommen, die Luft wurde wärmer, es roch nach Speisen, Murke sprang ab und taumelte in die Kantine. In der Ecke saßen drei freie Mitarbeiter an einem Tisch. Eierbecher, Brotteller und Kaffeekannen standen um sie herum. Die drei Männer hatten zusammen eine Hörfolge: Die Lunge, Organ des Menschen, verfaßt, hatten zusammen ihr Honorar abgeholt, zusammen gefrühstückt, tranken jetzt einen Schnaps miteinander und knobelten um den Steuerbeleg. Murke kannte einen von ihnen gut, Wendrich; aber Wendrich rief gerade heftig „Kunst!“ – „Kunst“ , rief er noch einmal, „Kunst, Kunst!.“ und Murke zuckte erschreckt zusammen, wie der Frosch, an dem man die Elektrizität entdeckte. Murke hatte das Wort Kunst an den beiden letzten Tagen zu oft gehört, aus Bur-Malottkes Mund; es kam genau einhundertvierunddreißigmal in den beiden Vorträgen vor; und er hatte die Vorträge dreimal, also vierhundertertundzweimal das Wort Kunst gehört, zu oft, um Lust auf eine Unterhaltung darüber zu verspüren. Er drückte sich an der Theke vorbei in eine Laube in der entgegengesetzten Ecke der Kantine und atmete erleichtert auf, als die Laube frei war. Er setzte sich in den gelben Polstersessel, zündete die Zigarette an, und als Wulla kam, die Kellnerin, sagte er: „Bitte Apfelsaft“ und war froh, daß Wulla gleich wieder verschwand . Er kniff die Augen zu, lauschte aber, ohne es zu wollen, auf das Gespräch der freien Mitarbeiter in der Ecke, die sich leidenschaftlich über Kunst zu streiten schienen; jedesmal, wenn einer von ihnen „Kunst“ rief, zuckte Murke zusammen. Es ist, als ob man ausgepeitscht würde, dachte er.

Wulla, die ihm den Apfelsaft brachte, sah ihn besorgt an. Sie war groß und kräftig, aber nicht dick, hatte ein gesundes, fröhliches Gesicht, und während sie den Apfelsaft aus der Karaffe ins Glas goß, sagte sie: „Sie sollten ihren Urlaub nehmen, Herr Doktor, und das Rauchen besser lassen.“ Früher hatte sie sich Wilfriede-Ulla genannt, dann aber den Namen der Einfachheit halber zu Wulla zusammengezogen. Sie hatte einen besonderen Respekt vor den Leuten von der kulturellen Abteilung. „Lassen Sie mich in Ruhe,“ sagte Murke, „bitte lassen Sie mich!“ „Und Sie sollten mal mit ’nem einfachen netten Mädchen ins Kino gehen.“ sagte Wulla. „Das werde ich heute abend tun,“ sagte Murke, ich verspreche es Ihnen.“ „Es braucht nicht gleich eins von den Flittchen zu sein,“ sagte Wulla, „ein einfaches, nettes, ruhiges Mädchen mit Herz. Die gibt es immer noch. „ „Ich weiß,“ sagte Murke, „es gibt sie, und ich kenne sogar eine.“ Na also, dachte Wulla und ging zu den freien Mitarbeitern hinüber, von denen einer drei Schnäpse und drei Tassen Kaffee bestellt hatte. Die armen Herren, dachte Wulla, die Kunst macht sie noch ganz verrückt. Sie hatte ein Herz für die freien Mitarbeiter und war immer darauf aus, sie zur Sparsamkeit anzuhalten. Haben sie mal Geld, dachte sie, dann hauen sie's gleich auf den Kopf, und sie ging zur Theke und gab kopfschüttelnd dem Büfettier die Bestellung der drei Schnäpse und der drei Tassen Kaffee durch. Murke trank von dem Apfelsaft, drückte die Zigarette in den Aschenbecher und dachte voller Angst an die Stunden zwischen elf und eins, in denen er Bur-Malottkes Sprüche auseinanderschneiden und an die richtigen Stellen in den Vorträgen hineinkleben mußte. Um zwei wollte der Intendant die beiden Vorträge in sein Studio gespielt haben. Murke dachte an Schmierseife, an Treppen, steile Treppen und Rutschbahnen, er dachte an die Vitalität des Intendanten, dachte an Bur-Malottke und erschrak, als er Schwendling in die Kantine kommen sah. Schwendling hatte ein rot-schwarzes, großkariertes Hemd an und steuerte zielsicher auf die Laube zu, in der Murke sich verbarg. Schwendling summte den Schlager, der letzt sehr beliebt war: „Nimm meine Lippen, so wie sie sind, und Sie sind schön....“, stutzte, als er Murke sah, und sagte: „Na, du? Ich denke, du schneidest den Käse von Bur-Malottke zurecht.“ „Um elf geht es weiter.“ sagte Murke. „Wulla, ein Bier.“ brüllte Schwendling zur Theke hin, „einen halben Liter. -Na,“ sagte er zu Murke hin, „du hättest dafür ’nen Extraurlaub verdient, das muß ja gräßlich sein. Der Alte hat mir erzählt, worum es geht. „ Murke schwieg, und Schwendling sagte: „Weißt du das Neueste von Muckwitz ?“ Murke schüttelte erst uninteressiert den Kopf, fragte dann aus Höflichkeit: „Was ist denn mit ihm?“ Wulla brachte das Bier, Schwendling trank daran, blähte sich ein wenig und sagte langsam: „Muckwitz verfeaturt die Taiga.“ Murke lachte und sagte: „Was macht Fenn?“ „Der,“ sagte Schwendling, „der verfeaturt die Tundra.“ „Und Weggucht?“ „Weggucht macht eine Feature über mich, und später mache ich eins über ihn nach dem Wahlspruch: Verfeature du mich; dann verfeature ich dich...“ Einer der freien Mitarbeiter war jetzt aufgesprungen und brüllte emphatisch in die Kantine hinein: „Kunst – Kunst – das allein ist es, worauf es ankommt.“ Murke duckte sich wie ein Soldat sich duckt, der im feindlichen Schützengraben die Abschüsse der Granatwerfer gehört hat. Er trank noch einen Schluck Apfelsaft und zuckte wieder zusammen, als eine Stimme durch den Lautsprecher sagte: „Herr Doktor Murke wird im Studio dreizehn erwartet – Herr Doktor Murke wird im Studio dreizehn erwartet.“Er blickte auf die Uhr, es war erst halb elf, aber die Stimme fuhr unerbittlich fort: „Herr Doktor Murke wird im Studio dreizehn erwartet – Herr Doktor Murke wird im Studio dreizehn erwartet.“ Der Lautsprecher hing über der Theke des Kantinenraumes, gleich unterhalb des Spruches, den der Intendant hatte an die Wand malen lassen: Disziplin ist alles. „Na.“ sagte Schwendling, „es nutzt nichts, geh.“ „Nein,“ sagte Murke, „es nutzt nichts.“ Er stand auf, legte Geld für den Apfelsaft auf den Tisch, drückte sich am Tisch der freien Mitarbeiter vorbei, stieg draußen in den Paternoster und ließ sich an den fünf Schrörschnauzaschenbechern vorbei wieder nach oben tragen. Er sah sein Herz-Jesu- Bildchen noch in der Türfüllung des Hilfsregisseurs geklemmt und dachte: ,Gott sei Dank, jetzt ist wenigstens ein kitschiges Bild im Funkhaus.' Er öffnete die Tür zur Kanzel des Studios, sah den Techniker allein und ruhig vor vier Pappkartons sitzen und fragte müde: „Was ist denn los?“ „Die waren früher fertig, als sie gedacht hatten, und wir haben eine halbe Stunde gewonnen.“ sagte der Techniker, „ich dachte, es läge Ihnen vielleicht daran, die halbe Stunde auszunutzen.“ „Da liegt mir allerdings dran.“ sagte Murke, „ich habe um eins eine Verabredung. Also fangen wir an. Was ist mit den Kartons ?“ „Ich habe.“ sagte der Techniker, „für jeden Kasus einen Karton- die Akkusative im ersten, im zweiten die Genitive, im dritten die Dative und in dem da“ – er deutete auf den Karton, der am weitesten rechts stand, einen kleinen Karton, auf dem REINE SCHOKOLADE stand, und sagte: „und da drin liegen die beiden Vokative, in der rechten Ecke der gute, in der linken der schlechte.“ „Das ist großartig.“ sagte Murke, ,,Sie haben den Dreck also schon auseinandergeschnitten. „ „Ja.“ sagte der Techniker, „und wenn Sie sich die Reihenfolge notiert haben, in der die Fälle eingeklebt werden müssen, sind wir spätestens in ’ner Stunde fertig. Haben Sie sich's notiert?“ – „Hab' ich.“ sagte Murke. Er zog einen Zettel aus der Tasche, auf dem die Ziffern 1 bis 27 notiert waren; hinter jeder Ziffer stand ein Kasus.

Murke setzte sich, hielt dem Techniker die Zigarettenschachtel hin; sie rauchten beide, während der Techniker die zerschnittenien Bänder mit Bur-Malottkes Vorträgen auf die Rolle legte.

„In den ersten Schnitt.“ sagte Murke, „müssen wir einen Akkusativ einkleben.“ Der Techniker griff in den ersten Karton, nahm einen der Bandschnippel und klebte ihn in die Lücke.

„In den zweiten.“ sagte Murke, „'nen Dativ.“ Sie arbeiteten flink, und Murke war erleichtert, weil es so rasch ging.

„Jetzt.“ sagte er, „kommt der Vokativ; natürlich nehmen wir den schlechten.“

Der Techniker lachte und klebte Bur-Malottkes schlechten Vokativ in das Band. „Weiter/“.“ sagte er, „weiter!“

„Genitiv.“ sagte Murke.

Der Intendant las gewissenhaft jeden Hörerbrief. Der, den er jetzt gerade las, hatte folgenden Wortlaut:

Lieber Rundfunk,

gewiß hast Du keine treuere Hörerin als mich. Ich bin eine alte Frau, ein Mütterchen von siebenundsiebzig Jahren, und ich höre Dich seit dreißig Jahren täglich. Ich bin nie sparsam mit meinem Lob gewesen. Vielleicht entsinnst Du Dich meines Briefes über die Sendung: ,Die sieben Seelen der Kuh Kaweida'. Es war eine großartige Sendung – aber nun muß ich böse mit Dir werden! Die Vernachlässigung, die die Hundeseele im Rundfunk erfährt, wird allmählich empörend. Das nennst Du dann Humanismus. Hitler hatte bestimmt seine Nachteile: wenn man alles glauben kann, was man so hört, war er ein garstiger Mensch, aber eins hatt' er: er hatte ein Herz fur Hunde und tat etwas fur sie. Wann kommt der Hund endlich im deutschen Rundfunk wieder zu seinem Recht? So wie Du es in der Sendung ,Wie Katz und Hund' versucht hast, geht es jedenfalls nicht: es war eine Beleidung für jede Hundeseele. Wenn mein kleiner Lohengrin reden könnte, der würd's Dir sagen! Und gebellt hat er, der Liebe, während Deine mißglückte Sendung ablief, gebellt hat er, daß einem's Herz aufgehen könnte vor Scham. Ich zahle meine zwei Mark im Monat wie jeder andere Hörer und mache von meinem Recht Gebrauch und stelle die Frage: Wann kommt die Hundeseele endlich im Rundfunk wieder zu ihrem Recht? Freundlich, obwohl ich so böse mit Dir binDeine Jadwiga Herchen, ohne Beruf P.S. Sollte keiner von den zynischen Gesellen, die Du Dir zur Mitarbeit aussuchst, fähig sein, die Hundeseele in entsprechender Weise zu würdigen, so bediene Dich meiner bescheidenen Versuche, die ich Dir beilege. Aufs Honorar würde ich verzichten. Du kannst es gleich dem Tierschutzverein überweisen. Beiliegend: 35 Manuskripte. Deine J.H.

Der Intendant seufzte. Er suchte nach den Manuskripten, aber seine Sekretärin hatte sie offenbar schon wegsortiert. Der Intendant stopfte sich eine Pfeife, steckte sie an, leckte sich über die vitalen Lippen, hob den Telefonhörer und ließ sich mit Krochy verbinden. Krochy hatte ein winziges Stübchen mit einem winzigen, aber geschmackvollen Schreibtisch oben in der Abteilung Kulturwort und verwaltete ein Ressort, das so schmal war wie sein Schreibtisch: Das Tier in der Kultur.

„Krochy“ , sagte der Intendant, als dieser sich bescheiden meldete, „wann haben wir zuletzt etwas über Hunde gebracht?“

„Über Hunde ?“ sagte Krochy, „Herr Intendant, ich glaube, noch nie, jedenfalls, solange ich hier bin noch nicht.“

„Und wie lange sind Sie schon hier, Krochy ?“ Und Krochy oben in seinem Zimmer zitterte, weil die Stimme des Intendanten so sanft wurde: er wußte, daß nichts Gutes bevorstand, wenn diese Stimme sanft wurde.

„Zehn Jahre bin ich jetzt hier, Herr Intendant.“ sagte Krochy.

„Es ist eine Schweinerei.“ sagte der Intendant, „daß Sie noch nie etwas über Hunde gebracht haben, schließlich fällt es in Ihr Ressort. Wie heißt der Titel Ihrer letzten Sendung?“

„Meine letzte Sendung hieß.“ stotterte Krochy.

„Sie brauchen den Satz nicht zu wiederholen.“ sagte der Intendant, „wir sind nicht beim Militär.“

„Eulen im Gemäuer.“ sagte Krochy schüchtern.

„Innerhalb der nächsten drei Wochen.“ sagte der Intendant, nun wieder sanft, „möchte ich eine Sendung über die Hundeseele hören..“

„Jawohl.“ sagte Krochy, er hörte den Klicks, mit dem der Intendant den Hörer aufgelegt hatte, seufzte tief und sagte: „O mein Gott!“

Der Intendant griff zum nächsten Hörerbrief.

In diesem Augenblick trat Bur-Malottke ein. Er durfte sich die Freiheit nehmen, jederzeit unangemeldet hereinzukommen, und er nahm sich diese Freiheit häufig. Er schwitzte noch, setzte sich müde auf einen Stuhl dem Intendanten gegenüber und sagte:

„Guten Morgen also..“

„Guten Morgen.“ sagte der Intendant und schob der Hörerbrief beiseite. „Was kann ich für Sie tun? „

„Bitte.“ sagte Bur-Malottke, „schenken Sie mir eine Minute..“

„Bur-Malottke.“ sagte der Intendant und machte eine großartige, vitale Geste, „braucht mich nicht um eine Minute zu bitten, Stunden, Tage stehen zu ihrer Verfügung..“

„Nein,“ sagte Bur-Malottke, „es handelt sich nicht um eine gewöhnliche Zeitminute, sondern um eine Sendeminute. Mein Vortrag ist durch die Änderung um eine Minute länger geworden...“

Der Intendant wurde ernst, wie ein Satrap, der Provinzen verteilt. „Hoffentlich.“ sagte er sauer, „ist es nicht eine politische Minute..“

„Nein,“ sagte Bur-Malottke, „eine halbe lokale und eine halbe Unterhaltungsminute.“

„Gott sei Dank.“ sagte der Intendant, „ich habe bei der Unterhaltung noch neunundsiebzig Sekunden, bei den Lokalen noch dreiundachtzig Sekunden gut, gerne gebe ich einem Bur-Malottke eine Minute.“ „Sie beschämen mich.“ sagte Bur-Malottke. „Was kann ich sonst noch für Sie tun?“ fragte der Intendant. „Ich wäre Ihnen dankbar.“ sagte Bur-Malottke, „wenn wir gelegentlich darangehen könnten, alle Bänder zu korrigieren, die ich seit 1945 besprochen habe. Eines Tages.“ sagte er – er fuhr sich über die Stirn und blickte schwermütig auf den echten Brüller, der über des Intendanten Schreibtisch hing-, „eines Tages werde ich“ – er stockte, denn die Mitteilung, die er dem Intendanten zu machen hatte, war zu schmerzlich für die Nachwelt – „eines Tages werde ich sterben werde ich -.“ und er machte wieder eine Pause und gab dem Intendanten Gelegenheit, bestürzt auszusehen und abwehrend mit der Hand zu winken – „und es ist mir unerträglich, daran zu denken, daß nach meinem Tode möglicherweise Bänder ablaufen, auf denen ich Dinge sage, von denen ich nicht mehr überzeugt war. Besonders zu politischen Äußerungen habe ich mich im Eifer des fünfundvierziger Jahres hinreißen lassen, zu Äußerungen, die mich heute mit starken Bedenken erfüllen und die ich nur auf das Konto jener Jugendlichkeit setzen kann, die von jeher mein Werk ausgezeichnet hat. Die Korrekturen meines geschriebenen Werkes laufen bereits an, ich möchte Sie bitten, mir bald die Gelegenheit zu geben, auch mein gesprochenes Werk zu korrigieren.“ Der Intendant schwieg, hüstelte nur leicht, und kleine, sehr helle Schweißtröpfchen zeigten sich auf seiner Stirn. Es fiel ihm ein, daß Bur-Malottke seit 1945 jeden Monat mindestens eine Stunde gesprochen hatte, und er rechnete flink, während Bur-Malottke weitersprach: zwölf Stunden mal zehn waren einhundertzwanzig Stunden gesprochenen Bur-Malottkes. „Pedanterie.“ sagte Bur-Malottke, „wird ja nur von unsauberen Geistern als des Genies unwürdig bezeichnet, wir wissen ja“ -und der Intendant fühlte sich geschmeichelt, durch das Wir unter die sauberen Geister eingereiht zu sein, „daß die wahren, die großen Genies Pedanten waren. Himmelsheim ließ einmal eine ganze, ausgedruckte Auflage seines Seelon auf eigene Kosten neu binden, weil drei oder vier Sätze in der Mitte dieses Werkes ihm nicht mehr entsprechend erschienen. Der Gedanke, daß Vorträge von mir gesendet werden können, von denen ich nicht mehr überzeugt war, als ich das Zeitliche segnete – der Gedanke ist mir unerträglich. Welche Lösung würden Sie vorschlagen?“ Die Schweißtropfen auf der Stirn des Intendanten waren größer geworden. „Es müßte.“ sagte er leise, „erst einmal eine genaue Aufstellung aller von Ihnen gesprochenen Sendungen gemacht und dann im Archiv nachgesehen werden, ob diese Bänder noch alle dort sind.“ „Ich hoffe.“ sagte Bur-Malottke, „daß man keins der Bänder gelöscht hat, ohne mich zu verständigen. Man hat mich nicht verständigt, also hat man kein Band gelöscht..“ „Ich werde alles veranlassen.“ sagte der Intendant. „Ich bitte darum.“ sagte Bur-Malottke spitz und stand auf. „Guten Morgen..“ „Guten Morgen.“ sagte der Intendant und geleitete Bur-Malottke zur Tür. Die freien Mitarbeiter in der Kantine hatten sich entschlossen, ein Mittagessen zu bestellen. Sie hatten noch mehr Schnaps getrunken, sprachen immer noch über Kunst, ihr Gespräch war ruhiger, aber nicht weniger leidenschaftlich geworden. Sie sprangen alle erschrocken auf, als plötzlich Wanderburn in die Kantine trat. Wanderburn war ein großer, melancholisch aussehender Dichter mit dunklem Haar, einem sympathischen Gesicht, das ein wenig vom Stigma des Ruhmes gekerbt war. Er war an diesem Tage unrasiert und sah deshalb noch sympathischer aus. Er ging auf den Tisch der drei freien Mitarbeiter zu, setzte sich erschöpft hin und sagte: „Kinder, gebt mir etwas zu trinken. In diesem Hause habe ich immer das Gefühl zu verdursten..“ Sie gaben ihm zu trinken, einen Schnaps, der noch dastand, und den Rest aus einer Sprudelflasche. Wanderbum trank, setzte das Glas ab, blickte die drei Männer der Reihe nach an und sagte: „Ich warne Sie vor dem Funk, vor diesem Scheißkasten – vor diesem geleckten, geschniegelten, aalglatten Scheißkasten. Ich warne Sie. Er macht uns alle kaputt..“ Seine Warnung war aufrichtig und beeindruckte die drei jungen Männer sehr; aber die drei jungen Männer wußten nicht, daß Wanderburn gerade von der Kasse kam, wo er sich viel Geld als Honorar für eine leichte Bearbeitung des Buches Hiob abgeholt hatte. „Sie schneiden uns.“ sagte Wanderburn, „zehren unsere Substanz auf, kleben uns, und wir alle werden es nicht aushalten.“ Er trank den Sprudel aus, setzte das Glas auf den Tisch und schritt mit melancholisch wehendem Mantel zur Tür. Punkt zwölf war Murke mit dem Kleben fertig. Sie hatten den letzten Sehnippel, einen Dativ, gerade eingeklebt, als Murke aufstand. Er hatte schon die Türklinke in der Hand, da sagte der Techniker: „Ein so empfindliches und kostspieliges Gewissen möcht' ich auch mal haben. Was machen wir mit der Dose ?“ Er zeigte auf die Zigarettenschachtel, die oben im Regal zwischen den Kartons mit neuen Bändern stand. „Lassen Sie sie stehen.“ sagte Murke. „Wozu?“ „Vielleicht brauchen wir sie noch.“ „Halten Sie's für möglich, daß er wieder Gewissensqualen bekommt?“ „Nicht unmöglich.“ sagte Murke, „warten wir besser ab. Auf Wiedersehen.“ Er ging zum vorderen Paternoster, ließ sich zum zweiten Stock hinuntertragen und betrat erstmals an diesem Tage sein Büro. Die Sekretärin war zum Essen gegangen, Murkes Chef, Humkoke, saß am Telefon und las in einem Buch. Er lächelte Murke zu, stand auf und sagte: „Na, Sie leben ja noch. Ist dies Buch Ihres? Haben Sie es auf den Schreibtisch gelegt?“ Er hielt Murke den Titel hin, und Murke sagte: „Ja, es ist meins.“ Das Buch hatte einen grün-grau orangefarbenen Schutzumschlag, hieß Batley's Lyrik-Kanal; es handelte von einem jungen englischen Dichter, der vor hundert Jahren einen Katalog des Londoner Slangs angelegt hatte. „Es ist ein großartiges Buch.“ sagte Murke. „Ja.“ sagte Humkoke, „es ist großartig, aber Sie lernen es nie.“ Murke sah ihn fragend an. „Sie lernen es nie, daß man großartige Bücher nicht auf dem Tisch herumliegen läßt, wenn Wanderburn erwartet wird, und Wanderburn wird immer erwartet. Der hat es natürlich gleich erspäht, es aufgeschlagen, fünf Minuten darin gelesen, und was ist die Folge? „ Murke schwieg. „Die Folge ist.“ sagte Humkoke, „zwei einstündige Sendungen von Wanderburn über Batley's Lyrik-Kanal. Dieser Bursche wird uns eines Tages noch seine eigene Großmutter als Feature servieren, und das Schlimmste ist eben, daß eine seiner Großmütter auch meine war. Bitte, Murke, merken Sie sich: nie großartige Bücher auf den Tisch, wenn Wanderbum erwartet wird, und ich wiederhole, er wird immer erwartet. – So, und nun gehen Sie, Sie haben den Nachmittag frei, und ich nehme an, daß Sie den freien Nachmittag verdient haben. – Ist der Kram fertig? Haben Sie ihn noch einmal abgehört? „ „Ich habe alles fertig.“ sagte Murke, „aber abhören kann ich die Vorträge nicht mehr, ich kann es einfach nicht..“ „'Ich kann es einfach nicht', ist eine sehr kindliche Redewendung.“ sagte Humkoke. „Wenn ich das Wort Kunst heute noch einmal hören muß, werde ich hysterisch.“ sagte Murke. „Sie sind es schon.“ sagte Humkoke, „und ich billige Ihnen sogar zu, daß Sie Grund haben, es zu sein. Drei Stunden Bur-Malottke, das haut hin, das schmeißt den stärksten Mann um, und Sie sind nicht einmal ein starker Mann...“ Er warf das Buch auf den Tisch, kam einen Schritt auf Murke zu und sagte: „Als ich in Ihrem Alter war, hatte ich einmal eine vierstündige Hitlerrede um drei Minuten zu schneiden, und ich mußte mir die Rede dreimal anhören, ehe ich würdig war, vorzuschlagen, welche drei Minuten herausgeschnitten werden sollten. Als ich anfing, das Band zum erstenmal zu hören, war ich noch ein Nazi, aber als ich die Rede zum drittenmal durch hatte, war ich kein Nazi mehr; es war eine harte, eine schreckliche, aber sehr wirksame Kur.“

„Sie vergessen.“ sagte Murke leise, „daß ich von Bur-Malottke schon geheilt war, bevor ich seine Bänder hören mußte.“

„Sie sind doch eine Bestie.“ sagte Humkoke lachend, „gehen Sie, der Intendant hört es sich um zwei noch einmal an. Sie müssen nur erreichbar sein, falls etwas passiert..“

„Von zwei bis drei bin ich zu Hause.“ sagte Murke.

„Noch etwas.“ sagte Humkoke und zog eine gelbe Keksdose aus einem Regal, das neben Murkes Schreibtisch stand, „was für Bandschnippel haben Sie in dieser Dose?“

Murke wurde rot. „Es sind.“ sagte er, „ich sammle eine bestimmte Art von Resten.“

„Welche Art Reste?“ fragte Humkoke.

„Schweigen.“ sagte Murke, „ich sammle Schweigen.“

Humkoke sah ihn fragend an, und Murke fuhr fort: „Wenn ich Bänder zu schneiden habe, wo die Sprechenden manchmal eine Pause gemacht haben – auch Seufzer, Atemzüge, absolutes Schweigen –, das werfe ich nicht in den Abfallkorb, sondern das sammle ich. Bur-Malottkes Bänder übrigens gaben nicht eine Sekunde Schweigen her.“

Humkoke lachte: „Natürlich, der wird doch nicht schweigen. – Und was machen Sie mit den Schnippeln?“

„Ich klebe sie aneinander und spiele mir das Band vor, wenn ich abends zu Hause bin. Es ist noch nicht viel, ich habe erst drei Minuten – aber es wird ja auch nicht viel geschwiegen.“

„Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß es verboten ist, Teile von Bändern mit nach Hause zu nehmen.“

„Auch Schweigen?“ fragte Murke.

Humkoke lachte und sagte: „Nun gehen Sie!“ Und Murke ging.

Als der Intendant wenige Minuten nach zwei in sein Studio kam, war der Bur-Malottke-Vortrag eben angelaufen:

„... und wo immer, wie immer, warum immer und wann immer wir das Gespräch über das Wesen der Kunst beginnen, müssen wir zuerst auf jenes höhere Wesen, das wir verehren, blicken, müssen uns in Ehrfurcht vor jenem höheren Wesen, das wir verehren, beugen und müssen die Kunst dankbar als ein Geschenk jenes höheren Wesens, das wir verehren, entgegennehmen. Die Kunst ...“

Nein, dachte der Intendant, ich kann wirklich keinem Menschen zumuten, einhundertzwanzig Stunden Bur-Malottke abzuhören. Nein , dachte er, es gibt Dinge, die man einfach nicht machen kann, die ich nicht einmal Murke gönne. Er ging in sein Arbeitszimmer zurück, schaltete dort den Lautsprecher an und hörte gerade Bur-Malottke sagen: „O, du höheres Wesen, das wir verehren...“ Nein, dachte der Intendant, nein, nein.

Murke lag zu Hause auf seiner Couch und rauchte. Neben ihm auf einem Stuhl stand eine Tasse Tee, und Murke blickte gegen die weiße Decke des Zimmers. An seinem Schreibtisch saß ein bildschönes, blondes Mädchen, das starr zum Fenster hinaus auf die Straße blickte. Zwischen Murke und dem Mädchen, auf einem Rauchtisch, stand ein Bandgerät, das auf Aufnahme gestellt war. Kein Wort wurde gesprochen, kein Laut fiel. Man hätte das Mädchen für ein Fotomodell halten können, so schön und so stumm war es. „Ich kann nicht mehr“, sagte das Mädchen plötzlich. „Ich kann nicht mehr, es ist unmenschlich, was du verlangst. Es gibt Männer, die unsittliche Sachen von einem Mädchen verlangen, aber ich meine fast, was du von mir verlangst, wäre noch unsittlicher als die Sachen, die andere Männer von einem Mädchen verlangen.“

Murke seufzte. „Mein Gott,“ sagte er, „liebe Rina, das muß ich alles wieder ’rausschneiden, sei doch vernünftig, sei lieb und beschweige mir wenigstens noch fünf Minuten Band.“ „Beschweigen.“ sagte das Mädchen, und sie sagte es auf eine Weise, die man vor dreißig Jahren ,unwirsch' genannt hätte. „Beschweigen, das ist auch so eine Erfindung von dir. Ein Band besprechen würde ich mal gern – aber beschweigen...“ Murke war aufgestanden und hatte den Bandapparat abgestellt. „Ach Rina,“ sagte er, „wenn du wüßtest, wie kostbar mir dein Schweigen ist. Abends, wenn ich müde bin, wenn ich hier sitzen muß, lasse ich mir dein Schweigen ablaufen. Bitte sei nett und beschweige mir wenigstens noch drei Minuten und erspare mir das Schneiden; du wißt doch, was Schneiden für mich bedeutet.“ „Meinetwegen.“ sagte das Mädchen, „aber gib mir wenigstens eine Zigarette.“ Murke lächelte, gab ihr eine Zigarette und sagte: „So habe ich dein Schweigen im Original und auf Band, das ist großartig.“ Er stellte das Band wieder ein, und beide saßen schweigend einander gegenüber, bis das Telefon klingelte. Murke stand auf, zuckte hilflos die Achseln und nahm den Hörer auf. „Also.“ sagte Humkoke, „die Vorträge sind glatt durchgelaufen, der Chef hat nichts Negatives gesagt... Sie können ins Kino gehen. – Und denken Sie an den Schnee.“ „An welchen Schnee?“ fragte Murke und blickte hinaus auf die Straße, die in der grellen Sommersonne lag. „Mein Gott.“ sagte Humkoke, „Sie wissen doch, daß wir letzt anfangen müssen, an das Winterprogramm zu denken. Ich brauche Schneelieder, Schneegeschichten – wir können doch nicht immer und ewig auf Schubert und Stifter herumhocken. – Kein Mensch scheint zu ahnen, wie sehr es uns gerade an Schneeliedern und Schneegeschichten fehlt. Stellen Sie sich einmal vor, wenn es einen harten und langen Winter mit viel Schnee und Kälte gibt: wo nehmen wir unsere Schneesendungen her. Lassen Sie sich irgend etwas Schneeiges einfallen.“ „Ja.“ sagte Murke. „Ich lasse mir etwas einfallen.“ Humkoke hatte eingehängt. „Komme.“ sagte er zu dem Mädchen, „wir können ins Kino gehen.“ „Darf ich jetzt wieder sprechen“ sagte das Mädchen. „Ja.“ sagte Murke, „sprich!“ Um diese Zeit hatte der Hilfsregisseur der Hörspielabteilung das Kurzhörspiel, das am Abend laufen sollte, noch einmal abgehört. Er fand es gut, nur der Schluß hatte ihn nicht befriedigt. Er saß in der Glaskanzel des Studios dreizehn neben dem Techniker, kaute an einem Streichholz und studierte das Manuskript. (Akustik in einer großen leeren Kirche) Atheist: (spricht laut und klar) Wer denkt noch an mich, wenn ich der Würmer Raub geworden bin? (Schweigen) Atheist: (um eine Nuance lauter sprechen) Wer wartet auf mich, wenn ich wieder zu Staub geworden bin ? (Schweigen) Atheist: (noch lauter) Und wer denkt noch an mich, wenn ich wieder zu Laub geworden bin? (Schweigen) Es waren zwölf solcher Fragen, die der Atheist in die Kirche hineinschrie, und hinter jeder Frage stand? Schweigen. Der Hilfsregisseur nahm das durchgekaute Streichholz aus dem Munde, steckte ein frisches in den Mund und sah den Techniker fragend an. „Ja.“ sagte der Techniker, „wenn Sie mich fragen: ich finde, es ist ein bißchen viel Schweigen drin.“ „Das fand ich auch“ sagte der Hilfsregisseur, „sogar der Autor findet es und hat mich ermächtigt, es zu ändern. Es soll einfach eine Stimme sagen: „Gott“ – aber es müßte eine Stimme ohne die Akustik der Kirche sein, sie müßte sozusagen in einem anderen akustisehen Raum sprechen. Aber sagen Sie mir, wo krieg' ich jetzt die Stimme her?“ Der Techniker lächelte, griff nach der Zigarettendose, die immer noch oben im Regal stand. „Hier.“ sagte er; „hier ist eine Stimme, die in einem akustikfreien Raum ,Gott' sagt.“ Der Hilfsregisseur schluckte vor Überraschung das Streichholz hinunter, würgte ein wenig und hatte es wieder vorn im Mund. „Es ist ganz harmlos.“ sagte der Techniker lächelnd, „wir haben es aus einem Vortrag herausschneiden müssen, siebenundzwanzigmal.“ „So oft brauche ich es gar nicht, nur zwölfmal.“ sagte der Hilfsregisseur.

„Es ist natürlich einfach,“ sagte der Techniker, „das Schweigen ’rauszuschneiden und zwölfmal Gott ’reinzukleben – wenn Sie's verantworten können.“

„Sie sind ein Engel,“ sagte der Hilfsregisseur, „und ich kann es verantworten. Los, fangen wir an.“ Er blickte glücklich auf die sehr kleinen, glanzlosen Bandschnippel in Murkes Zigarettenschachtel. „Sie sind wirklich ein Engel.“ sagte er, „los, gehen wir ’ran!“

Der Techniker lächelte, denn er freute sich auf die Schnippel Schweigen, die er Murke würde schenken können: es war viel Schweigen, im ganzen fast eine Minute: So viel Schweigen hatte er Murke noch nie schenken können, und er mochte den jungen Mann.

„Schön,“ sagte er lächelnd, „fangen wir an.“

Der Hilfsregisseur griff in seine Rocktasche, nahm seine Zigarettenschachtel heraus; er hatte aber gleichzeitig ein zerknittertes Zettelchen gepackt, glättete es und hielt es dem Techniker hin:

„Ist es nicht komisch, was für kitschige Sachen man im Funkhaus finden kann? Das habe ich an meiner Tür gefunden.“

Der Techniker nahm das Bild, sah es sich an und sagte:

„Ja, komisch“, und er las laut, was darunter stand:

Ich betete für dich in Sankt Jacobi.