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Sabine Lebensieg

Das Märchen vom Gänseliesel


Es war einmal ein armer Bauersmann, der hatte drei Töchter. Die Mädchen waren alle drei recht wohlgeraten – fleißig, freundlich und schön anzusehen, ganz so wie ein Vater sich seine Kinder nur wünschen kann. Doch trotz alledem machte sich der Bauer große Sorgen, ob seine Töchter jemals würden heiraten können, denn die Familie war so arm, daß man sich die Aussteuer für die Mädchen nicht leisten konnte. Ohne eine ordentliche Aussteuer würde sich kein Mann für die Mädchen finden.

Eines Abends saß der Bauer mit seiner Frau im Schein einer Kerze in der Stube und erzählte ihr von seinen Sorgen: „Ach, wenn wir doch auch einen Buben hätten, dann wäre vieles leichter! Der Junge könnte sich am königlichen Hof als Gänsehirt verdingen. Mir ist gerade erst vor ein paar Tagen zu Ohren gekommen, daß dort ein Gänsehirt gebraucht wird. Mit dem Geld könnten wir dann wenigstens für eines unserer Mädchen die Aussteuer bezahlen.“ Nebenan im Zimmer lag die jüngste Tochter noch wach und hörte die Worte ihres Vaters, und es machte sie sehr traurig. Sie dachte eine Weile nach und faßte schließlich einen Entschluß.

Am anderen Morgen, als Vater und Mutter auf dem Feld waren, schickte sie ihre älteren Schwestern unter einem Vorwand aus dem Haus. Als sie allein war, nahm sie eine Schere, trat vor den Spiegel und schnitt sich ihre langen goldblonden Zöpfe ab. Die tat sie sorgsam in eine hölzerne Schatulle. Dann legte sie ihre Kleider ab, zog sich Hemd und Hose ihres Vaters an und setzte sich einen alten Arbeitshut auf. So trat sie wieder vor den Spiegel und betrachtete ihr Spiegelbild. „Ja, so wird es gehen!“ sagte sie zufrieden mit dem, was sie sah. Dann packte sie das Nötigste für sich in ein großes Tuch und vergaß auch die Schatulle mit den abgeschnittenen Haaren nicht. Danach verließ sie das Haus und machte sich auf den Weg zum königlichen Hof. Sie war das erste Mal ganz allein unterwegs und fürchtete sich in dem dunklen Wald, den sie durchqueren mußte, doch nach einiger Zeit kam sie wohlbehalten am Schloß an. Dort wollte es der Zufall, daß sich drei Buben, die Gänsehirt am königlichen Hof werden wollten, gerade vorstellten. Das Mädchen in seiner Verkleidung stellte sich schüchtern hintenan.

Der Oberhirte war ein sehr strenger Mann, und er hatte an jedem der Bewerber etwas auszusetzen. Der erste Bub in der Reihe hatte ein lahmes Bein. „Was machst du, wenn die Gänse dir davonlaufen? Mit deinem lahmen Bein holst du sie nicht mehr ein, und sie laufen dir davon!“ sagte der Oberhirte zu dem Jungen und schickte ihn weg.

Der zweite Bube war taub. „Was machst du, wenn der Fuchs kommt und die Gänse erschreckt? Du hörst ihr aufgeregtes Schnattern ja gar nicht, und der alte Rotrock hat leichtes Spiel!“, hatte der Oberhirte an diesem Bewerber auszusetzen und schickte auch ihn fort.

Der dritte Bube hatte ein blindes Auge. „Was machst du, wenn dir auf der Seite, wo du nicht sehen kannst, Gänse verlorengehen? Du siehst es ja nicht und kommst womöglich abends nur mit der halben Gänseschar nach Hause!“, sagte der Oberhirte unzufrieden und wollte auch diesen Buben nicht als Gänsehirten haben.

Dann trat er auf das Mädchen zu. „Und was haben wir hier? Du bist recht klein und zierlich für einen Jungen! Hast du auch irgendein Gebrechen?“ „Nein“, antwortete das Mädchen und versuchte, seine Stimme möglichst tief klingen zu lassen. „Du bist wirklich gar zu schmächtig für einen Buben, aber ich will es mal mit dir versuchen. Ab morgen gehst du mit den Gänsen auf die Weide. Du bekommst dafür einen Groschen in der Woche. Hüte die Tiere sorgsam, so daß sie gutes, nahrhaftes Futter finden und immer satt werden, und bringe sie abends alle vollzählig zurück in den Stall! Wehe dir, wenn du eine verlierst! Ich werde sie dir doppelt vom Lohn abziehen! Schlafen kannst du in der Kammer gleich neben dem Stall. Hast du alles verstanden?“ Das Mädchen nickte nur stumm, aber innerlich freute sie sich sehr, daß sie mit ihrer Verkleidung den strengen Mann getäuscht und die Stelle bekommen hatte, denn ein Mädchen, daß wußte sie, hätte er niemals als Gänsehirten angestellt.

So kam es. daß sie von nun an jeden Morgen in der Frühe mit den Gänsen auf die Weide vor den Toren des Schlosses zog und sie dort bis zum Abend hütete. Sie machte ihre Arbeit gut, achtete sorgsam darauf, daß keine Gans verlorenging, und führte sie zu dem frischesten Gras und den besten Kräutern, so daß die Tiere am Abend immer satt und zufrieden in ihren Stall zurückkehrten.

So ging es eine ganze Weile lang. Eines Tages jedoch waren die Gänse sehr aufgeregt. Das Mädchen wollte sie wie gewohnt auf die Wiese am Waldrand führen, doch sie schnatterten laut, schlugen aufgeregt mit den Flügeln und sahen ängstlich zum Wald hinüber. Sie waren nicht dazu zu bewegen, in die Nähe der Bäume zu gehen. Das Mädchen glaubte, daß sich ein Fuchs am Waldrand versteckt hielt, doch plötzlich meinte es, Stimmen aus dem Wald zu hören und erschrak fürchterlich. Schnell kehrte sie mit den Gänsen zum Schloß zurück, denn sie ahnte, daß die unheimlichen Stimmen aus dem Wald nichts Gutes zu bedeuten hatten.

Der Oberhirte schimpfte sehr, weil sie viel zu früh mit den Gänsen von der Weide zurück gekommen war, doch sie erzählte ihm trotz seines Zorns von den merkwürdigen Verhalten der Tiere und den Stimmen aus dem Wald. Er lachte sie aus und nannte sie einen „dummen Angsthasen“ und glaubte ihr kein Wort. Trotzdem erzählte er noch am selben Abend einem Wachmann der Schloßwache, was der Gänsehirt Merkwürdiges gehört haben wollte, und der Wachmann erzählte es seinem Oberwachhabenden, und der erzählte es dem Generalwachhabenden, und der erzählte es dem König.

Der König war ein sehr kluger und umsichtiger Mann, und er schickte sogleich die schwerbewaffneten Reiter der Schloßwache in den Wald. Sie sollten nachsehen, was es mit den Stimmen auf sich hatte. Nach einer Stunde kehrte ein Bote zum König zurück und berichtete von Kämpfen. Die Reiter des Königs waren im Wald auf Raubritter gestoßen, die sich dort versammelt hatten, um in der nächsten Nacht das Schloß zu überfallen und auszurauben. Sie waren jedoch von der Schloßwache noch im Schlaf überrascht und vertrieben worden.

Der König hörte die guten Nachricht und war froh, daß die drohende Gefahr nun abgewendet war. Er schickte nach dem Gänsehirten, um sich bei ihm zu bedanken. „Was möchtest du als Lohn für deine Aufmerksamkeit haben? Sage mir deinen Wunsch, und ich will ihn dir erfüllen“, sagte der König. Das Mädchen antwortete bescheiden: “ Ich möchte nichts für mich. Nur für meine Familie wünsche ich mir einen Beutel Geld, damit meine beiden älteren Schwestern heiraten können.“ Der König nickte beifällig und war mit ihrem Wunsch einverstanden: „So soll es sein.“

Ein Bote brachte am anderen Tag einen Beutel voller Geld zu der armen Bauersfamilie, doch statt sich zu freuen, beklagte der Bauer sich bitterlich, daß seine jüngste Tochter vor einiger Zeit verschwunden sei und er seitdem nichts mehr von ihr gehört habe. Zurück am Hof berichtete der Bote seinem König von den merkwürdigen Worten des Bauern, und da der König nicht nur ein umsichtiger, sondern auch ein weiser Mann war, machten ihn die Worte des Boten neugierig. Er begab sich selber in die Unterkunft des Gänsehirten, als der mit den Tieren auf der Weide war, und fand dort die hölzerne Schatulle und darinnen die abgeschnittenen langen, blonden Zöpfe. Daraufhin schickte er noch am selben Abend erneut nach dem Gänsehirten. „Dein Vater erzählte meinem Boten, daß er seine jüngste Tochter vermissen würde. Hast du deine Schwester gesehen oder etwas von ihr gehört?“, fragte der König. Das Mädchen schüttelte nur stumm den Kopf. Da zog der König ihr den alten Hut vom Kopf, und zum Vorschein kamen ihre goldenen Haare, ganz so wie die Zöpfe in der hölzernen Schatulle. Da wußte der König, wen er vor sich hatte. Er hieß die Küchenfrauen, Wasser zu wärmen und das Mädchen zu baden und zu waschen. Danach wurden ihr schöne Kleider und teurer Schmuck angelegt. So gekleidet und geschmückt mußte sie erneut vor den König treten, und er war erstaunt über ihre Anmut und Schönheit. „Wie heißt du?“, fragte sie der König freundlich. Das Mädchen lächelte scheu und antwortete mit einem tiefen, ehrfürchtigen Knicks:„Man nennt mich des Bauern Liesel, mein König.“ In diesem Moment verliebte sich der König in das schöne Bauernmädchen, und wenig später nahm er sie zur Frau. Fortan lebten beide glücklich und zufrieden zusammen auf dem Schloß.
 

Als besonderen Dank und zur Erinnerung an die Rettung des Schlosses vor den Raubrittern und zur Ehre der jungen Königin ließ der König in der Mitte des Markplatzes einen tiefen Brunnen bohren. Auf ein Podest über diesem Brunnen wurde die bronzene Figur eines jungen, zierlichen Mädchens, das Gänse hütet, aufgestellt. Die Leute im Schloß nannten die Figur daraufhin bald nur noch das „Gänseliesel“ und verehrten sie.

Das Gänseliesel wurde zum Wahrzeichen des Schlosses, und die bronzene Figur über dem Brunnen überdauerte viele, viele Jahrhunderte.

So steht sie auch heute noch auf dem Markplatz der Stadt, die sehr viel später aus den Resten der alten Mauern des Schlosses entstanden ist, und ist heute noch deren Wahrzeichen.
 
 
 

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geschrieben im Juli 2001

veröffentlicht auf mein-gaenselieselmaerchen.npage.de