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Das Leuchtmoos


Der Winter ist zu zeitig gekommen, ich bin noch nicht in den Wald gegangen, um mir das Moos für die Weihnachtskrippe zu holen. Es ist mir aber von jeher klar gewesen, daß ich ohne Moos kein rechtes Weihnachten habe. Es ist ein Wunder darin. Das Moos gehört zu jenen geheimnisvollen Erscheinungen dieser Erde, die eigentlich gar nicht mehr in den Sehbereich des Menschen gehören. Der Mensch ist viel zu groß dazu. Ochsen kann der Mensch sehen; auch Bäume und Sträucher; auch Rosen und Nelken; manchmal sogar auch Veilchen und Gänseblümchen. Aber eine Strecke weiter in das Kleine und Unscheinbare hinein, da benimmt sich der Mensch geradezu blöde. Seine ganze Richtung geht in das immer Größere, immer Gewaltigere. Er nennt dies Fortschritt und spricht sogar von einem gesunden Fortschritt. Wie nun, wenn solcher Weg eine Krankheit und sein Ende der Tod wäre, nicht nur für die einzelnen Menschen, die zu Hunderten und Tausenden den Kolossalwerken zum Opfer fallen, sondern für die ganze Menschheit? Wenn Leben und Wahrheit auf dem anderen Wege lägen? Ach, das ist auch eine von den großen Fragen, an denen man sterben kann, darum: Fort mit ihr! Ich will mich heute nur mit kleinen Fragen beschäftigen, denn ich habe nun einmal vor Weihnachten eine ganz unbegreifliche Sehnsucht nach ganz Kleinem, ganz Einfachem, ganz Schlichtem.

Das Moos gehört also in ein Reich, das wegen seiner Geringheit noch souverän und unabhängig von den Menschen ist. Gleich dahinter kommt das Reich, von dem man nur noch in Sagen und Märchen etwas hört. Und noch weiter dahinter? Mein Gott, wenn dort etwa gar, und nur dort, das Weihnachten läge, das ich von Herzen ersehne und das ich nun um jeden Preis erreichen will, auch wenn ich noch weiter von allem Großen und Vornehmen und Ehrenvollen in der Welt weichen müßte, als ich schon von ihnen gewichen bin.

Mein Weihnachten, meine Erlösung, mein Licht! Ich weiß, daß diese Wunder nicht im Großen und Lauten liegen, sondern vielleicht im Allergeringsten und Allerstillsten. Es gab eine Zeit, da suchten die Menschen in ihrer Angst vor den geistigen Mächten, die sie umdrängten, ein Moosstänglein „wider das Autun“. Es sollte sie erretten vom Übel. Und sie nannten es ???„Widerton“. Sie suchten den Heiland in etwas ganz Geringem und Schlichtem und wußten, daß der Weg zu ihm irgendwo dort gehen müsse.

Mein Weihnachten, mein Licht! Die Menschen zünden zu Weihnachten Lichter an. Aber es ist etwas ganz Sonderbares dabei: die großen modernen Leuchtkörper lassen Sie verlöschen und zünden ganz kleine Lichter aus Wachs oder Talg an; auch das kleine Öllämpchen ist ihnen recht. Und in der freudigen Hoffnung auf diesen schlichten Schein singen sie den ganzen Advent hindurch: „Et erit in die illa lux magnas“ – „Und es wird sein an jenem Tag ein großes Licht“. Sie, die von Jahr zu Jahr nach immer stärkeren Leuchtkörpern streben, vom Kienspanlicht zur Bogenlampe und darüber hinaus –, die sich am liebsten die Sonne in ihre Stuben und Höfe stellten, sie machen zu Weihnachten eine Umkehr, als ob sie wüßten, daß das Weihnachtslicht auf dem umgekehrten Weg leuchte. Sie wissen es nicht, aber sie ???müssen ??ahnen es.

Je schlichter und feiner das Licht, desto eher kann es das Weihnachtslicht sein.

Es soll ein ganz wunderbar feines Licht im Moose sein, und deshalb, glaube ich, muß ich die Weihnachtszeit immer damit beginnen, daß ich mir im Walde Moos suche für meine Weihnachtskrippe. Tief in Felsenspalten und in den Höhlungen, die am Fuß der Baustämme von den Baumwurzeln gebildet werden, wächst die Schistostega ocmundacea oder das Leuchtmoos. Dort ist wohl das zarteste Licht auf der ganzen Erde. Im Vorkeim dieses Moses sind gewisse Zellen wie glashelle Kügelchen, die sich dem Tageslicht zuneigen, um es einzufangen und, Brennlinsen gleich, in die dunkle Tiefe zu werfen. Dort warten die Blättlein des Moses, fangen das Licht auf und verteilen es in der ganzen Höhlung, denn sie sind wie Hohlspiegel, die solches vermögen. Da ist nun überall ein smaragdgrünes Leuchten um das ganze Moos. In dieser Leuchten gedeiht es und wächst es. An der Sonne würde es verderben.

Wenn ich in den Wald nach Weihnachtsmoos gehe, glaube ich, dem Wesentlichen des Weihnachtswunders auf der Spur zu sein. Was habe ich mich früher gesorgt und bekümmert, daß ein Weihnachten nach dem anderen ohne große Wirkung und ohne dauernden Glanz an mir und einer ganzen Menschheit vorüberging! Immer weiter machte ich meine Augen auf, und immer weniger sah ich. Jetzt weiß ich, daß es umso echter ist, je leiser und unmerkbarer seine Berührung ist, je milder und zarter sein Leuchten. Und weiß, daß ???doch und doch die Menschheit in jedem Jahr einmal davon getroffen wird und daß sie davon immer wieder ein Jahr lang leben kann,

Nicht das große, laute, poltrige, gigantische Leben, sondern das ganz kleine, schlichte, leise Leben, das man ewiges Leben nennt.

Ich weiß vom Moos, daß es etwas Urweltliches ist. Noch nahe verwandt mit den Algen, die ich schon auf den Gewässern leben konnten, ehe noch das Erdreich emportauchte aus den Fluten, besiedelten die Moose sogleich das feste Land und halfen – wie wir jetzt noch beobachten können – sterbend, die Ackerkrume fruchtbar und bewohnbar zu machen.

Geheiligt erwacht die Urwelt am Heiligen Abend. Die Menschen wissen es nicht; sie spüren bloß einen Zauber; sie müssen aber in vielen Zeichen zeigen, daß zwar ihr Geist nichts von diesem Geheimnis weiß, wohl aber ihr Fleisch und Blut, Ihre Sitze und ihre Sprache.

Sie gehen in den Stall und reden mit den Tieren und geben ihnen von ihrem täglichen Brote. Sie leben wieder unter Bäumen. Der Tannenbaum in der Stube macht erst die Stube weihnachtlich. Tausend Ornamente haben sie erfunden, mit denen sie sonst ihre Wände schmücken: Goldleisten, Voluten, mannigfaltigste Tapisserien. Jetzt möchte sie das alles verbergen; jetzt bringen sie Tannengrün aus den Wäldern und schmücken ihre Wände damit. Sie üben Kunst am Heiligen Abend, Aber es ist die primitive Kunst. Die Weihnachtskrippen sind umso weihnachtlicher, je weniger sie mit fortgeschrittener Kunst zu tun haben. Der Stall nur aus borkigem Holz gezimmert und mit Stroh bedeckt. Je urweltlicher er ist, desto weihnachtlicher wirkt er. Und die Menschen? Sie beschenken sich wieder, und zwar nicht nur in der Not, sondern in der Freude, wie es ursprüngliche Art gewesen sein muß. Und sie nähren sich wieder so wie die Menschen der Urwelt. Weiße, süße Milchsuppe mit Brocken weißen Brotes und Mandelkernen ist die echte Weihnachtssuppe; und Honigkuchen, Äpfel und Nüsse das echte Weihnachtsmahl. Es erklingen Lieder im eigenen weihnachtlichen Ton; sie werden in den Kirchen sogar zu großen Musikwerken, aber immer muß die uralte Weise der Hirtenflöte und der Klang in ihnen leben, sonst sind sie nicht weihnachtlich. Auch die Urwissenschaft kommt am Heiligen Abend wieder zu den Menschen, die heilige Deutung. In den zwölf Nächten vor Weihnacht bis Epiphani sehen die Menschen das Schicksal der zwölf Monate bis zum nächsten Weihnachten. Sie erzählen sich von diesen Traumgesichten und suchen sie zu deuten.

Das ist freilich alles nur Umgebung und Umstand, aber es ist Leuchtmoos mit seinem smaragdenen Licht. Wer seine Augen noch nicht verdorben hat an der Sonne und an der Glühbirne, der schaue nun in dieses ganz zarte und milde Licht! Da liegt nun das Kindlein auf Heu und auf Stroh; der Vater, die Mutter betrachten es froh, die redlichen Hirten knien betend davor, und oben schwebt jubelnd der Engelein Chor.

Das Allerursprünglichste, was die Menschen je erleben können, das ist in der Mitte der heilige Nacht! Das Kind! Als ob alle Weltgeschichte ausgelöscht wäre, so steht die Menschheit in der heiligen Nacht an ihrem Anfang.
 

Joseph Wittig (1879–1949)